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Interview mit der USP (Universität von São Paulo)

Autor: Enio Moraes Júnior

Übersetzung ins Deutsche: Laura Gröbner Ferreira

Von einer Brasilianerin idealisiert gibt ein virtuelles Museum aus Berlin Migranten eine Stimme

Als Suely Torres gegen Ende der 1980er aus Brasilien nach Berlin kam, waren das Land und die Stadt noch durch die Mauer geteilt. Ihr Ziel war klar und wurde umgehend umgesetzt: den Magister Lateinamerikanistik an der Freien Universität Berlin zu studieren, dieselbe Uni, an der sie momentan Sozial- und Kulturanthropologie belegt. Neben ihrem Wissenshunger und der Arbeit als Portugiesisch-Lehrerin ist Suely auch eine talentierte Fotografin und stellte kürzlich ihr Werk über den Berliner Alltag in verschiedenen Galerien der Stadt aus.

Neben dem Unterricht, den Fotos und den Literaturveranstaltungen, die sie manchmal organisiert, faszinierten schon immer Migrationsbewegungen und deren Figuren die aus Recife, Pernambuco stammende Kulturschaffende. Dieser aufmerksame Blick brachte sie auf die Idee, das Deutsche Migrationsmuseum (DMM) zu gründen. Seit dem 28. Dezember ist es nun online und wird auch von der deutschen Regierung anerkannt.

“Wie kann man den Migranten näher kennenlernen, wenn der Großteil der Medien ihn wie einen Fremdkörper darstellt?”, hinterfragt sie. Das DMM mit seinem Archiv aus Video-Statements ist eine digitale Plattform, die sich als Raum für Begegnung, Dialog und Austausch von Informationen über die Migration etablieren will. Im Anschluss ein Interview mit Suely Torres, der Gründerin des in Berlin angesiedelten Projekts.

Du bist Brasilianerin aus Recife und lebst seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Hat die Idee, das DMM einzurichten, etwas mit dir und deiner eigenen Geschichte zu tun?

Alles, was wir aus eigenem Antrieb machen, hat immer etwas mit uns selbst zu tun. Es ist immer Produkt einer inneren Unruhe, einer Unzufriedenheit, einer Notwendigkeit. Und es gibt keine bessere Motivation als all das zusammen. Deutschland war schon immer ein Migrationsland und als eine der größten Wirtschaftsstandorte der Aktualität ist es natürlich, dass es im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Für viele, die hier studieren, arbeiten oder leben wollen, ist die Sprache wahrscheinlich das einzige Hindernis. Aber es gibt nicht nur Leute aus anderen Kontinenten, die nach Europa ziehen wollen; die Europäer wollen genauso an anderen Orten leben, wo es Sonne, Strand und Leichtigkeit gibt, wo sie sich niederlassen und ihr eigenes Ding anfangen können. Das Kommen und Gehen der Menschen weltweit ist einfach ein Fakt. Mit der Gründung eines solchen Museums versuche ich diese Lücke zu füllen und etwas zu erschaffen, dass diese Geschichten zusammenführen und erzählen kann. Ich konnte es einfach nicht verstehen, wie in einem Land wie Deutschland noch nicht das Bedürfnis da war, diese Art von Geschichten zu sammeln. Das interessanteste ist, dass dieses Vorhaben aus meiner Arbeit entstanden ist, mit der maßgeblichen Unterstützung von drei kompetenten und begeisterten Brasilianerinnen: Mariana Florio, Fernanda Sumita und Maria do Carmo Carrasco. Wahrscheinlich macht es Sinn, dass diese Idee unter Migranten entsteht, so können sie sie mithilfe ihrer eigenen Erfahrungen und Perspektiven erschaffen.

In einem Interview an das Observatório da Imprensa konstatierte die deutsche Journalistin Ulrike Schleicher, dass die deutschen Medien vor fünf Jahren den humanitären Problemen der Migranten noch viel sympathischer gegenüber stand. Heutzutage, meint sie, ist der Journalismus aufgrund der öffentlichen Meinung der Migration gegenüber weniger aufgeschlossen. Stimmst du damit überein? Hat der Wunsch, den Immigranten Sichtbarkeit und Würde zu geben, das Projekt mitangetrieben?

Es geht nicht darum, mit Immigranten sympathisch oder unsympathisch umzugehen, es geht darum gerecht, mitmenschlich und respektvoll zu sein. Wer in Deutschland oder in vielen anderen Ländern weltweit Migrant ist, wird abgestempelt, sei es aufgrund der Sprache oder aufgrund des Aussehens. Die Migration wird leider immer noch als eine Bedrohung, als ein Problem angesehen, und tagtäglich filtern sichtbare und unsichtbare Grenzen die Migrationsbewegung immer mehr aus. Sobald man die erste Hürde, die tatsächlichen Grenzen, überschritten hat, kommen schon die nächsten: die Sprache, das Aussehen, der Akzent… Und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind auch nicht demokratischer. Man muss stark und vorbereitet sein, um all dem zu trotzen. Darüber hinaus interessiert sich niemand für die Erfahrungen, die Migranten mit sich bringen, weil dieser Background eben nur auf das Stereotyp des Fremden, des Andersartigen, des Migranten reduziert wird. Wie lernt man den oder die Migrantin näher kennen, wenn niemand sich niemand dafür Zeit nimmt und der Großteil der Medien sie immer noch als Fremde darstellt?


Das DMM gibt es einzig und allein online in virtueller Form?

Genau. Es handelt sich um eine digitale Plattform, barrierefrei, ohne Grenzen, ohne Öffnungszeiten, für jede Person zugänglich, so wie alle Museen sein sollten. Es ist ein Ort für Begegnung, für Entdeckungen und um sich als Menschen näher zu kommen. Die Idee ist, sehr demokratisch zu sein, was die Besucher und Zugriffe angeht… Es ist ein Museum, dass in die Schule, in die Universität, überall hingetragen werden kann. Uns ist es auch wichtig, klarzustellen, dass das DMM eine gemeinnützige Organisation ist, die in Deutschland registriert ist und von der Regierung anerkannt wird.

Der Inhalt der Plattform besteht aus Videos, auf denen die Migranten ihre Erfahrungen schildern. Wer sind diese Personen, die ihr befragt habt? Gibt es irgendeinen Fokus, zum Beispiel auf Geflüchtete?

Unser Schwerpunkt liegt nicht unbedingt auf den Geflüchteten. Das DMM richtet sich an jede Person, unabhängig davon, woher sie kommt oder wohin sie sich bewegt. Alle Subjekte der globalen Migrationsbewegungen können eine erzählenswerte Geschichte haben. Europäer, Amerikaner, Afrikaner, Asiaten, wir alle sind ständig in Bewegung und diese gemeinsamen Geschichten erschaffen Parallelen, gegenseitiges Erkennen, soziale und politische Überlegungen darüber, was es bedeutet zu migrieren. Es bringt uns zum Nachdenken, es bringt uns zu dem Schluss, dass das kein Problem, keine Bedrohung, sondern etwas Natürliches ist, auch wenn man vor einem Krieg flüchtet, denn fliehen bedeutet am Leben zu sein wollen, selbst an einem anderen Ort. Diese Idee umzusetzen hat viel Organisation, Lernen und Recherche gefordert. Genau deswegen habe ich einen Forschungsaufenthalt bei einem virtuellen Museum, dem Museu da Pessoa, dass in 1990 von drei Frauen in São Paulo gegründet wurde, durchgeführt. Ich wollte dort die Methodologie und die Vorgehensweisen einer solchen Plattform erlernen. Außerdem, weil ja jedes Museum eine Kuratorin braucht, habe ich eine Spezialisierung an der Universität der Künste in Berlin absolviert, um die Kollektion des DMM zu kuratieren.

Wie triffst du auf diese Personen und welche sind die wiederkehrenden Themen in ihren Schilderungen?

In 2016 habe ich an einem Coaching mit der Direktorin des Martin-Gropius-Baus in Berlin teilgenommen, und sie schlug vor, es seie einfacher, wenn die ersten Interviewten aus meinem Network kämmen. Mit mehr Übung und Erfahrung könnte ich dann meinen Interviewtenkreis ausweiten. Ein hervorragender Rat. Als Kulturmanagerin habe ich Kontakt zu vielen Künstlern in Deutschland und in Brasilien, und ich hatte mir überlegt, dass es am besten sei, die Migrationsgeschichten der Künstler, die ich kenne, auszuwählen. Künstler, die auch in ihrem eigenen Werk Themen wie Identität, Bewegung und Migration behandeln. Ich habe bei der Videoproduktion mit Menschen wie der Opernsängerin der Berliner Staatsoper Adriane Queiroz, aus Belém do Pará in Brasilien; Luzia Simons, einer Künstlerin aus Ceará, Brasilien, und ein Freund, ein afrodeutscher Musiker und Jazz-Professor in New York. Die ersten Interviews führten mich zu neuen Kontakten, jedes Mal weiter entfernt innerhalb meines Netzwerkes und jetzt ist es schon eine gigantische Liste! Die Themen, die immer wieder aufkommen, sind Empowerment und Identität. Und was mir auffällt: Das Interesse daran, mit der Gesellschaft, in der man lebt, zu interagieren, nicht nur als Migrant toleriert, sondern als Person akzeptiert zu werden und nicht nur auf seinen Akzent oder Aussehen reduziert zu werden. Am Ende des Tages sind es Narrativen, die einem klar machen, dass jeder Mensch verstanden, akzeptiert und wertgeschätzt werden will.


 

“Beginnen ist nicht nur eine Art von Handlung. Es ist auch eine Geisteshaltung, eine Art von Arbeit, eine Einstellung, ein Bewusstsein.”

-Said